Zeitzeugen: Ein bunter Strauß der Erinnerungen

Gerda Hauke (geb. Soltwedel)
Gerda Hauke (geb. Soltwedel)

Warum meine Kontakte zur Rostocker Altstadt auch mit 85 Jahren nicht abreißen

„In Rostock waren wir auch, aber leider nicht in der Altstadt.“  Das erzählten mir meine Nachbarn, als sie von einem Kurzurlaub in Warnemünde zurück kamen.
Nicht in der Altstadt? Schade, dachte ich. Warum schade? Weil die Rostocker Altstadt mich an so Vieles erinnert, was mit meiner Kindheit und Jugend verknüpft ist? Oder weil ich immer wieder erneut überrascht bin, was sich in diesem ältesten Stadtteil der Hansestadt getan hat? Wie er sich, ziemlich verfallen, heruntergekommen und wohl auch vergessen (oder gar schon abgeschrieben?) gemausert hat, immer attraktiver und anziehender wird, auch für Besucher aus Nah und Fern? Vielleicht ist es von jedem etwas.
Doch der Reihe nach.

Erster Berührungspunkt

In Rostock habe ich das Licht der Welt erblickt. Das war im Jahr 1924, ist also schon ein paar Jährchen her. In der damals üblichen Sütterlinschrift hat dies der „Stellvertretende Standesbeamte in Rostock“ auf einem 22 x 9cm kleinen Zettelchen, heute schon etwas vergilbt, aber doch noch gut erhalten, dokumentiert. Das war, wie bei jedem echten Rostocker, mein erster Kontakt mit dem Standesamt – oder vielmehr dieses wichtigen Amtes mit mir.
Viele Jahre später, längst in Berlin ansässig, habe ich in diesem historischen Gebäude in der Straße hinter dem Rathaus, wo meine Geburtsurkunde gestempelt wurde, auch geheiratet.

Knapp zwei Monate später

Die nächste Bindung an den wohl ältesten Teil meiner Heimatstadt ließ nicht lange auf sich warten. Ein „Auszug aus dem Taufregister der evangelisch-lutherischen Gemeinde St.Nicolai in Rostock“  bestätigt, dass ich am 19.Oktober 1924 die heilige taufe empfangen habe. Das war knapp zwei Monate nach meiner Geburt. Daran erinnern kann ich mich allerdings nicht mehr, was wohl verständlich ist.
Der Faden zur Altstadt riss auch weiterhin nicht ab.

War das in Ordnung?

1931 sollte ich eingeschult werden. Meine Eltern wohnten in der Steintor-Vorstadt, nicht etwa in einer der schönen Villen, sondern in einer der kleinen Straßen am Stadtrand (Klo im Keller, auf dem Boden oder sonst wo),  Vom Territorium gehörte ich zweifellos in eine Mädchenschule der Vorstadt, vom Geldbeutel meiner Eltern her offenbar nicht. Denn das Lesen und Schreiben sollte ich in der Schule am Alten Markt, gegenüber der Petrikirche lernen. So bestimmte es damals die Schulbehörde, oder wer auch immer.
War das in Ordnung? Meine Eltern, besorgt um ihr „Döchting“ meinten: Nein! Für ein kleines Mädchen ein unzumutbar weiter Schulweg! Aber nicht nur das: Diese Bildungsstätte hatte damals wohl nicht den besten Ruf, sagte man, was auch immer das heißen mochte.

Mutter kontra Schulbehörde

Meine Mutter kämpfte wie eine Löwin um ihr Junges, damit ich meinen neuen Lebensabschnitt in der Steintor-Mädchenschule beginnen konnte. Sie gewann!  Zwar ein paar Tage später als alle anderen „ABC-Schützen“ in der Stadt (worüber ich sehr geweint haben soll) fing für mich der Ernst des Lebens an, wie man dieses Ereignis noch heute kommentiert.
Auch aus der Folgezeit gibt es in Richtung Altstadt etwas zu berichten.

Klavierspiel für den Hausgebrauch

An das Viertel rund um die Nicolai-Kirche zum Beispiel knüpfen sich nämlich auch Gedanken, die mit Geburt, Taufe, Konfirmation nichts zu tun haben, sondern mit Klavierunterricht. Die Lehrerin, eine Gesangs- und Klavierpädagogin, ihren Namen habe ich vergessen,  wohnte am „Wendländer Schilde“, also mitten in der alten Stadt. Durch sie lernte ich Noten und Tonleitern kennen, quälte mich mit Übungsstücken wie „Der fröhliche Landmann“. Sie lehrte mich alles, was man zum Klavierspielen für den Hausgebrauch benötigt.
Die Methoden meiner Lehrerin gefielen mir allerdings nicht sonderlich. Kam ich bei meinen Übungen aus dem Takt oder erwischte ich eine falsche taste, was natürlich unüberhörbar war, gab’s leichte Schläge mit einem dünnen Stäbchen auf meine Finger. Diese Art der Korrektur war nicht nach meinem Geschmack. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - habe ich in den ca. drei Jahren Unterricht am Wendländer Schilde eine Menge gelernt.
Wenn ich „Wendländer Schilde“ schreibe, fällt mir eine Begebenheit ein, die so gar nicht ins Konzept passt. Sie ereignete sich in der „Jüngeren“ Vergangenheit, liegt sie doch erst etwa 30 Jahre zurück. Wenn sie mir in den Sinn kommt, muss ich heute noch schmunzeln.

Was war los im alten Seemannsclub?

Durch meinen Beruf als Journalistin war ich viel unterwegs. Besonders gern hatte ich Dienstreisen nach Rostock oder an die Küste überhaupt. Wer will es mir verdenken! Hotelzimmer waren damals nicht leicht zu buchen. Für eine Übernachtung in Rostock hatten wir (insgesamt drei Personen) uns im Seemannsclub am Wendländer Schilde Zimmer reserviert. Einheimische, denen ich davon erzählte, waren entsetzt. Auch meinem Bruder, ein waschechter Rostocker, verschlug es die Sprache und er fragte nach: „Wo wohnst du? Im alten Seemannsclub? Du meine Güte! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Der Türsteher dort ist aus gutem Grund ein ehemaliger Gewichtheber.“ (Oder sagte er Boxer“)
Das alles schreckte uns nicht. Wir haben in einer oberen Etage des Clubs sicher und ungestört geschlafen, „wie in Abrahams Schoß“.
Was sich in den unteren Etagen, in den eigentlichen Clubräumen, abspielte, dort, wo die Seeleute aus Nah und fern beim Landgang ihre Freizeit verbrachten, davon haben wir nichts mitgekriegt. Eigentlich schade! Es wäre sicherlich eine nicht ganz alltägliche Reportage geworden. Aber wir hatten ja andere Aufgaben an der Küste zu erfüllen.
Nebenbei bemerkt: Der Hauptbuchhalter unseres Verlages stutzte zunächst unübersehbar, als er die Übernachtungsquittung  in unserer Spesenabrechnung prüfte. Als er aber den durchaus akzeptablen Preis bemerkte, hatte er keine Einwände gegen unser „Hotel“ in Rostock.

300m in 15 Minuten

Das und viel mehr wird gegenwärtig wenn ich jetzt, Jahrzehnte später, durch die Altstadt fahre, ob östliche, nördliche oder westliche.  So genau kenne ich die Grenze nicht, will ich sie auch nicht kennen, sollte man sie aus meiner Sicht auch nicht ziehen. Und deshalb gehört für mich auch die Badeanstalt am Mühlendamm dazu, wo ich unter Aufsicht vom staatlich geprüften Schwimmmeister W. Müller 1937 in 15 Minuten 300m und ein Jahr später sogar 1 500m in 45 Minuten geschwommen bin. Dafür erhielt ich entsprechende Urkunden, auf die ich heute noch stolz bin.

Ein- oder zweimal im Jahr

Das alles liegt schon sooo lange zurück, schließlich habe ich schon mit 21 erstmalig meinen Wohnsitz gewechselt. Und doch ist kein Jahr vergangen ohne einen Aufenthalt oder mehrere Besuche in Rostock. Wenn ich regelmäßig im Frühjahr und im Herbst in Warnemünde ein paar Tage Urlaub mache, gehört garantiert ein Tag meiner Heimatstadt. „Mein“ Taxifahrer kennt schon die Route. Die Altstadt ist natürlich dabei. Dann geht es durch enge Straßen, oft über holpriges Kopfsteinpflaster, vorbei an den meist schmucken alten Häusern, den Kirchen, der Schule zum Hafen.
Dieser Anschauungsunterricht in Richtung Heimatkunde auf vier Rädern endet seit einiger Zeit in der Grubenstraße, durch die früher Güterzüge vom Hafen kamen und wieder zum Hafen dampften. Dort wohnt nämlich jetzt meine Nichte, die sich nicht nur in ihrem neuen Kiez wohl fühlt, sondern sich auch für ihn engagiert.  So kenne ich dort auch schon kleine gemütliche Lokale verschiedener Art von innen, ihre Angebote und die bezahlbaren Preise.

Beim nächsten Besuch

Froh bin ich, dass ich erleben kann, wie die „Alte“ von Jahr zu Jahr anziehender wird, sich nicht verstecken muss, zwar alt ist, aber äußerst attraktiv.
Meine Nachbarn haben mir fest versprochen, bei ihrem nächsten Aufenthalt in Warnemünde einen Ausflug in die Rostocker Altstadt zu unternehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie sich dieses Erlebnis nicht entgehen lassen werden. Vor dem ehrwürdigen Rathaus mit den 7 Türmen waren sie ja schon, schwärmen vom Ratskeller, seiner wohltuenden Atmosphäre, der vorzüglichen Gastronomie. Das veranlasst nun wiederum mich, in diesen urgemütlichen Keller, den ich Jahrzehnte nicht mehr aufgesucht haben einzukehren, bei einem Glas Wein – oder auch zwei oder drei – von meiner Kindheit und Jugend in der schönen, stolzen Hansestadt zu träumen …
und sicherlich auch von der zeit, da ich in diesem Rathaus gearbeitet habe.

Autorin: Gerda Hauke (geb. Soltwedel)
Journalistin, lebte bis Ende 2009 in Berlin, der Text wurde abgedruckt in der OSTPOST Nr. 19.

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