Zeitzeugen: Interview mit Wilhelm Stichert

Wilhelm Stichert
Wilhelm Stichert

Einigen Rostockern ist der Name Stichert sicher noch in Erinnerung. Im Zusammenhang mit verschiedenen kaufmännischen Aktivitäten in der Östlichen Altstadt tauchte der Name gleich mehrfach auf. Für die 2. Ausgabe der OSTPOST befragten wir Wilhelm Stichert als Zeitzeugen.

W. Stichert: Ich bin 1935 geboren, als Sohn eines Bauern. 1945 wurden wir dann von den Russen enteignet und sind nach Rostock gezogen. Mein Großvater hatte den Kaufmannsladen in der Harten Straße Ecke Wollenweberstraße und mein anderer Großvater war Schlachtermeister Keding hinterm Rathaus. Ich bin dort in der Scharrenstraße geblieben, um die Schlachterei zu übernehmen und habe Schlachter gelernt.

OSTPOST: Welche Rolle spielte die Östliche Altstadt in Ihrer Entwicklung und wie verlief Ihre Kindheit?

W. Stichert: Nun, ich bin ein Rostocker Jung' und wir sind natürlich als Kinder, hier an der Petrikirche, auf der Warnow "Klanner gelaufen".

OSTPOST: Was war denn das?

W. Stichert: Klanner gelaufen - Eisschollen laufen. Wenn der Eisbrecher von Ludewig 'rausfuhr sind wir 'rauf auf die Eisschollen, von einer auf die andere gesprungen und dann rüber nach Gehlsdorf. Oft genug hatten wir einen nassen Arsch bekommen, saßen beim Hausmeister in der Altstädtischen Schule unten im Keller und trockneten unsere Klamotten an der Heizung. Als Gegenleistung mussten wir dann Briketts heranfahren.

OSTPOST: Und im Sommer?

W. Stichert: Zum 1. Mai war anbaden, da sind wir in die Gaswiesen oder zur Stralsunder Brücke und von dort ins Wasser gesprungen.

OSTPOST: Sicher auch in die Badeanstalt?

W. Stichert: Ja, Bademeister Müller, bloß wir hatten unsere Sachen in den Gaswiesen versteckt und sind von dort aus rübergeschwommen, um den Eintritt zu sparen, wir hatten ja auch kein Geld. Und dann gab's da noch die Straßenschlachten...

OSTPOST: Mit Banden?

W. Stichert: Genau, eine Straße gegen die andere.

OSTPOST: Was passierte da alles?

W. Stichert: Es gab ordentlich Schacht, Steine flogen, mit Katapult und ohne, und all' solch' Zeug, mit Stöcken aufeinander los. Wir hatten uns dann auch wieder vertragen und alles war gut. Besonders aufregend war es im Winter, da gab es auch noch richtig Schnee. Wir bauten uns aus mehreren Schlitten einen Bob und dann ging es runter die Scharrenstraße, Weißgerberstraße...

OSTPOST: ... in der Grubenstraße kam der Zug und Sie konnten nicht mehr bremsen.

W. Stichert: Das kam vor und ab und zu sind wir dann unter dem Zug hindurch gefahren, der fuhr ja im Schneckentempo. Es war keine Absicht, aber schön war's. Ich möchte meine Kindheit hier in der Altstadt nicht vermissen.
Es war zwar viel zerstört, wir spielten noch lange Zeit in Trümmern und Ruinen, aber unseren Spaß hatten wir auch. Wenn ich ab und zu ein paar alte Rostocker treffe, dann lassen wir die alten Zeiten noch einmal aufleben.

OSTPOST: Sie sprachen vorhin von der Schlachterei?

W. Stichert: Die Schlachterei in der Großen Scharrenstraße ist seit 1841 in Familienhand. Hier oben war 1945 eine Panzersperre. Als die Russen einmarschierten da hatten wir hier in der Schlachterei plötzlich 35 bis 40 Fleischergesellen, alles Soldaten die abgehauen waren. Als der Krieg zu Ende ging wurden die deutschen Soldaten ja von den Russen gejagt und da sind die alle hier 'rein. Wir haben denen einen weißen Kittel angezogen und so waren sie alle Schlachter.

OSTPOST: Und da haben die Russen gesagt: Das ist aber ein gut gehender Laden?

W. Stichert: Früher wurde noch auf der Straße geschlachtet.

OSTPOST: Undenkbar heute. Wie kommen Sie damit zurecht, dass immer mehr kleinere Läden verschwinden und größere Ladenketten, meistens außerhalb der Stadt angesiedelt, das Geschäft machen?

W. Stichert: Das ist für mich ein großer Jammer. Die Städte gehen dabei absolut kaputt, aber die Politik will es nicht anders. Die großen Ketten verkaufen Fleisch zu einem Preis für den wir mal gerade Ware einkaufen. Bei uns bekommt der Kunde allerdings absolut frisches Fleisch.

OSTPOST: Das Ganze ist ja heutzutage Vertrauenssache, besonders wo die Kunden durch Rindfleischskandale u. ä. verunsichert sind.

W. Stichert: Wir haben einmal dazu einen Film gemacht mit dem NORD-MAGAZIN. Darin war zu sehen, wie ich den Bullen vom Stall geholt, zum Schlachten gebracht, vom Schlachter bei uns in die Produktion, dokumentiert, dass alles aus Mecklenburger Aufzucht ist.

OSTPOST: Kommen wir zur Kohle. Auch hier ist der Name Stichert noch vielen alten Rostockern in Erinnerung.

W. Stichert: Das war mein Vater. 1945 hatten die Leute ja nichts zum Heizen. Ich kann mich daran erinnern, als der Güterzug voll beladen mit Kohlen durch die Grubenstraße fuhr und die Russen jede Menge aus Deutschland abtransportierten, da sind wir aufgesprungen, haben die Briketts runter geschmissen und die Omas sammelten die Kohle auf. Da hatte mein Vater noch die Kreissäge und langsam bauten wir dann eine Versorgung der Haushalte mit Briketts auf. Das funktionierte damals noch auf Kohlekarten. Mein Vater fing mit 8 Pferden an, die Tiere standen in der Gärtnerstraße. Wir bekamen verschiedene Kohlesorten geliefert, Koks, Briketts, Rohbraunkohle...
Die Kohle wurde in den 50-er Jahren noch aufgesackt und mit Pferdewagen ausgefahren. Wir versuchten dann, die Kohle per Rutsche durch die Kellerfenster zu befördern, um nicht jeden Sack einzeln in den Keller tragen zu müssen.

OSTPOST: Manch' eine Frau soll sich ja beschwert haben, dass sie um den einen oder anderen Sack betrogen wurde...?

W. Stichert: Ja, da kann ich mich auch noch erinnern. Wir waren rausgefahren und eine Kundin sollte 40 Sack bekommen und da hat sie per Streichhölzer mitgezählt. Sie legte einen Streichholz nach dem anderen in die Hand und dann sagte sie zu mir: „Nö, Herr Stichert, das sind aber nur 35 Sack ..." Es waren aber 40. Wir hatten die leeren Säcke vor die Tür gelegt und nachgezählt.

OSTPOST: In der Altstadt wird viel gebaut. Was sollte man erhalten, was erneuern?

W. Stichert: Ich würde sagen, die Östliche Altstadt sollte man so wieder aufbauen wie sie einmal war, so gestalten, dass sie touristenfreundlich wirkt. Ich freue mich immer wieder darüber, dass die Lohgerberstraße so toll restauriert wurde, dass es für mich als alten Rostocker eine Freude ist, hindurch zu gehen. Ich weiß ja wie schön das mal aussah. Als der Petriturm wieder aufgesetzt wurde, war ich dabei und verkaufte Bratwurst und Glühwein. Das war für mich... mir standen die Tränen in den Augen.

Das Interview führte Peter Naujoks, es wurde abgedruckt in der OSTPOST Nr. 2

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