Im Keller schnarchte die Katze – alternatives Altstadtleben vor der Wende

Autor Harry Körber bei einem musikalisch-literarischen Programm in der Lohgerber Str. 37
Autor Harry Körber bei einem musikalisch-literarischen Programm in der Lohgerber Str. 37

Auf Wohnungssuche in Rostock

Als wir 1992 die Östliche Altstadt verließen und aufs Land zogen, war dies das Ende unserer Zeit als Rostocker Einwohner (seit 1985) und Erhaltungswohner (seit Januar 1986). Bis August 1987 wohnten wir noch in der nördlichen Altstadt, im Burgwall 18, anschließend dann in der Lohgerberstrasse 37. Zu dieser Form des Wohnens brachte uns die Lust an den eigenen vier Wänden, da wir als Studentenehepaar mit Kind innerhalb des staatlichen Wohnungsprogrammes der DDR nur das Recht auf einen gemeinsamen Internatsplatz in Güstrow hatten (dort studierte ich Pädagogik, meine Frau in Rostock Sonderpädagogik). Doch unsere vier eigenen Wände sollten natürlich in Rostock sein: hier bot sich uns menschlich und kulturell das interessantere Pflaster. Dass auch in Rostock eine Erhaltungswohnerszene existierte, hatte sich herumgesprochen, und nach den Erfahrungen des eigenen Bekanntenkreises waren es die nordöstliche und die Östliche Altstadt, die dafür in Frage kamen. Später hörten wir von ähnlichen Projekten in der KTV: Kommilitonen und Freunde hatten dort Wohnungen gefunden und bezogen.
Wahrscheinlich hat ja auch die Steintorvorstadt mit der Güba - Am Güterbahnhof - eines der prominentesten Überbleibsel dieser Szene.
Die Voraussetzungen waren simpel: Altbausubstanz, welche die DDR mangels Interesse oder mangelnder Wirtschaftskraft nicht erhalten konnte, wurde aus baupolizeilichen Gründen oder wegen des fehlenden “Standards für sozialistisches Wohnen“ leer gezogen und verfiel zunehmend.
Nahmen sich dieser Altbausubstanz nun jedoch Erhaltungswohner an, konnten sie mit ihrer Anwesenheit den Verfall durch Leerstand oder durch Entkernung verhindern (sozialistische Häuslebauer „holten“ aufgrund mangelnden Baumaterials gern die Treppengeländer, Wasserleitungen, Türen, Zargen und Fenster aus solchen Häusern). Die Erhaltung betraf nicht nur das „eigene“ Haus: in der Lohgerberstrasse bat uns unser Hausnachbar, Pastor Joachim Gauck, das Loch im Dach zu reparieren, da sein Schlafzimmer, welches an unsere Hauswand grenzte, feuchte Flecken an der Decke hatte… Auch ohne seine spätere Prominenz zu kennen, war das natürlich kein Problem, erfreuten wir uns doch an der nachbarschaftlichen Akzeptanz, an den Äpfeln aus dem Pfarrgarten und dem Holzspielzeug, welches Herr Gauck an unseren Sohn weiterverschenkte.
Ein gewisses handwerkliches Geschick war natürlich unumgänglich, denn Erhaltungswohnen bedeutete, baulich noch mehr improvisieren zu können, als mancher Häuslebauer im Sozialismus.
Immerhin waren gesperrte Kachelöfen wieder in Gang zu bringen, Dachziegel zu ersetzen, Stromleitungen und Wasserzufuhr wieder gangbar zu machen und das alles ohne staatliche Hilfe und am besten auch ohne deren Wissen. Zwar war man hauptwohnsitzlich gemeldet und bezahlte regelmäßig Strom und Gas, aber nicht immer verbrauchsgerecht, denn so mancher kaputte Zähler tat weiter seinen Dienst, ohne seiner Pflicht zu genügen: nur damit das Haus warm blieb, das Wasserrohr nicht einfror und die Feuchtigkeitsschäden sich in Grenzen hielten. Darin bestand unsere Abgrenzung von dem Begriff Schwarzwohner oder Wohnungsbesetzer und brachte uns die - wenn auch nie amtliche - Unterstützung von Menschen wie Ulrich Hammer (Stadtarchitekt), der schon damals den Verfall historischer Bausubstanz zu verhindern suchte. Er war es auch, der uns darauf hinwies, dass das Wasser im Keller der Lohgerberstrasse wahrscheinlich ein Abwasserproblem war und dringend behoben werden musste, sollte das Haus nicht Schaden nehmen – wie recht er hatte, merkte ich sehr schnell beim Ausschöpfen des Kellers, so dass ich bis zur Entdeckung der Verstopfung eine Sperre auf alle sanitären Anlagen aussprechen musste…
Unsere erste Wohnung im Burgwall fand ich noch durch intensives Begehen der Altstadt. Beim Mustern alter Häuser auf Leerstand wurde ich von einem Studenten angesprochen, der gerade seine Wohnung aufgeben wollte, weil er schon zweimal einen Wohnungseinbruch erlebt hatte. Diese Tatsache brachte auch die problematische Seite des Erhaltungswohnens ans Tageslicht: einerseits eine gewisse Rechtsunsicherheit durch den fehlenden Mietvertrag und zudem der Widerstand staatlicher Behörden gegen die unkontrollierte Wohnungsnutzung, die auch uns zwangen, die Burgwall-Wohnung zu wechseln – ausgehend von der „Entdeckung“ durch den zuständigen ABV. Dass wir
dann eine größere und schönere Wohnung in der Östlichen Altstadt fanden, war der Mund zu Mund Propaganda unter den Erhaltungswohnern zu verdanken.
Glücklicherweise war es gleich ein halbes Haus, was gerade von Studenten verlassen wurde und uns ermöglichte, mit allen drei „Mietpartnern“ vom Burgwall 18 in die Lohgerberstraße 37 umzuziehen. Eigentlich sollte es in diesem Haus sogar noch einen „echten“ Mieter geben, Frau B., die aber schon seit Jahren nicht mehr aufgetaucht war. Für uns wurde es deshalb zu einem running gag, Frau B. überall im Haus zu vermuten, aber als dann der junge Mann von oben zu uns aufgeregt in die Wohnung kam, weil er aus dem Keller eindeutige Schnarchgeräusche vernommen hatte, zogen wir dann doch alle zusammen wie drei der sieben Schwaben Taschenlampenbewaffnet in den alten Gewölbekeller – doch im Keller schnarchte lautstark eine Katze …

Blick von der Lohgerber Straße in den Gerberbruch (1987)
Blick von der Lohgerber Straße in den Gerberbruch (1987)

Gemeinsam Leben in der Altstadt

Die Östliche Altstadt war ein klassischer Ort zum Erhaltungswohnen: kleine alte Bausubstanz (vergessen von der Stadt Rostock, ohne Anspruch, sozialistisch bewohnbar oder „modern“ zu werden), Kneipen, die nie zu touristisch überfüllten Gaststätten wurden, dazu der Bau einer Straßenbahntrasse am Rande des Gebietes, die viel eher eine Umgehung als eine Zufahrt war. Das eröffnete die Möglichkeit, ganze Häuser zu übernehmen und erhaltend zu bewohnen: schön und unspektakulär das unsere in der Lohgerberstrasse 37; bekannt als Kultur- und Veranstaltungsstätte die „Wolli 50“, das Eckhaus in der Wollenweberstrasse, das auf einem großen Speicherboden Platz bot für interessante Diavorträge zur Geschichte Rostocks, aber auch Organisationspunkt war für die in der Östlichen Altstadt vorhandene alternative Studenten- und Familienkultur. Denn Familien waren ein großer Teil der Erhaltungswohnerszene.
Schon durch die Unmöglichkeit, als Studenten, allein oder mit Kindern, eigenen Wohnraum zugewiesen zu bekommen, war das Beziehen leer stehender Wohnungen die einzige Chance, den sozialistischen Slogan von „Jedem eine Wohnung“ mit Leben zu erfüllen …
Das brachte auch junge Familien in dieses Wohngebiet, die dem staatlichen Ganztagsversorgungsgebot die Bereitschaft entgegenstellten, mit und für die eigenen Kinder zu Hause bleiben, was zumindest teilweise durch die Babyjahrregelung staatlich akzeptiert wurde.
Ich hatte selber mit meiner Frau bald zwei Kinder und umso erfreulicher war die Möglichkeit, mit anderen jungen Familien Kinderalltag und -ereignisse gemeinsam zu erleben. Mittelpunkt war die ab 1988 in der Gerberkapelle beheimatete und von der Kirchgemeinde unterstützte „Kinderstube“, die besonders von Vätern mit ihren Kindern besucht wurde, so dass wir mitunter auf den örtlichen Spielplätzen als Herrenrunde mit Kindern deutliches Aufsehen erregten. Die „Kinderstube“ war nun kein Projekt der Erhaltungswohner (ich war dort wohl der einzige Vater ohne Mietvertrag), aber es passte in diese Gegend, sich auf diese Weise gemeinsam zu treffen und zu engagieren. Auch in der besagten Wolli 50 lebten ja Eltern mit Kindern; man traf sich zum großen „Laterne gehen“, was mir durch das gemeinsame Singen auch eine Erweiterung meines Liedschatzes ermöglichte … (inzwischen sind ja in der Öffentlichkeit singende Väter nur noch selten zu hören…, beim Hansaspiel, spätabends auf Kneipenheimwegen, hoffentlich bei Spaziergängen mit der Kita…).
Aber auch wir kreierten unsere kulturellen Höhepunkte und Traditionen in der Lohgerberstrasse 37. Angeregt und gefördert durch meine musikalische Frau und einen Akkordeon spielenden, komponierenden und dichtenden Freund, wurde der große Hausflur romantischer Aufführungsort für musikalisch-literarische Programme. Eines davon war ein von uns und einigen Kommilitonen gemeinsam erarbeitetes Stück mit Texten von Erich Mühsam. Eigentlich war es als Studentenarbeit für die pädagogische Hochschule in Güstrow gedacht, dort wurde es aber wegen seiner verallgemeinernden Aussagen und kritischen Fragen nach einer Voraufführung vor zensierenden Dozenten verboten.
Das sollte jetzt keine allgemeine Einschätzung der politischen Ausrichtung in der Erhaltungswohnerszene sein. Es gab auch genügend Leute, die einfach nur in Ruhe wohnen wollten und dabei keinen Anspruch auf Alternativkultur oder sozialistische Opposition hatten. Und nicht jedes Hoffest, auch bei uns in der Lohgerberstrasse, wollte die Welt verändern - wir grillten aus Freude am Beisammensein und nannten das Herbstfest, weil es gerade die Jahreszeit war.

Hinterhof-Idylle in der Östlichen Altstadt
Hinterhof-Idylle in der Östlichen Altstadt

Aufbruch in die Zeitenwende

Dennoch fand sich genügend Nährboden für das, was dann 1989 als Bürgerbewegung in die Öffentlichkeit drängte. In der Gerberkapelle trafen sich abends viele der Eltern, die sich aus ihrem Alltagsleben mit ihren Kindern kannten. In der dort entstandenen Teestube, eine Art Kirchencafe, gab es die ersten offenen Briefe des Neuen Forums zu lesen, wurden Unterschriften für einen Protestbrief gegen die Ereignisse in China gesammelt, wurde vieles diskutiert, geplant und beredet.
Für Leute, die wie wir, im Erdgeschoss noch eine leere Wohnung als Fotolabor nutzen konnten (mit perfekter Verdunklung, da die ersten Mieter ohne Mietvertrag das mit dem „Schwarzwohnen“ sehr genau nahmen – schwärzer als diese Fenster war nicht mal die Nacht), wurde das Vervielfältigen illegaler Texte Teil der abendlichen Freizeitgestaltung. Auch die Schreibmaschine stand dort, die für das Abtippen von Texten der jungen demokratischen Bewegungen (mit sechs Durchschlägen!) notwendig war. Eine günstige kritischpolitische Achse in der Östlichen Altstadt: durch die Studentengemeinde in St. Petri und die Teestube Gerberkapelle in St. Nikolai waren dort genügend Andockpunkte für Leute, die etwas verändern wollten.
Die Veränderungen kamen schneller und intensiver als gedacht. Obwohl die kurz vor der Wende erfolgte Zustimmung der Stadt zu unserem Antrag auf einen offiziellen Ausbauvertrag für die Lohgerberstrasse 37 durch die neuen Besitzverhältnisse nichtig wurde, und obwohl unser in Eigenleistung begonnenes Spielplatzsanierungsprojekt in der Wendenstrasse aufgrund fehlender Ämterzuordnung nicht weitergeführt werden konnte, so gab es doch immer noch dieses Östliche-Altstadt-Gefühl. Sehr bald gründeten wir eine Bürgerinitiative Östliche Altstadt als freiwilliges Bürgergremium für alle Interessierten. Zu uns Aktivisten kamen schnell Vertreter neu entstandener Gewerbe (Reisebüro Zwerg) und andere Bewohner, denen der Stadtteil aus unterschiedlichsten Gründen am Herzen lag. Es war das Interesse an dem „Wie weiter mit der Östlichen Altstadt?“, welches uns zusammenkommen ließ. Öffentlichkeit und möglichst breite Einbeziehung aller dort
Wohnenden waren ja ein wenig dem Ideal der demokratischen Umwälzungen geschuldet, weshalb wir auch unsere Aufrufe und Protokolle im selbstgebauten Schaukasten an der Ecke Pümperstraße/Große Wasserstraße veröffentlichten, der noch Jahre später im Gebüsch vor sich hin träumte.
Dass diese Initiative auch an der Entstehung der OSTPOST beteiligt war, gibt ihr im Nachhinein noch eine gewisse Wertigkeit. Für mich war die Zeit des Wohnens in der Östlichen Altstadt im Herbst 1992 zu Ende. Meine Frau und ich bekamen unser drittes Kind und hatten schon regelmäßig Besuche durch einen Hausverwalter mit Hamburger Kennzeichen, der nichts von unseren mietfreien Wohnverhältnissen in seinem frisch erworbenen Eigentum (oder auch nur Verwaltungsobjekt) hielt. Außerdem waren wir auch selbst inzwischen vom „Hausbesetzer“ zum Hausbesitzer (und Landbesitzer im Trebeltal) umgestiegen. So verließen wir die Östliche Altstadt, wo schon der Blick über die Stadtmauern einem klar machte, dass dieses auch zukünftig eine wundervolle Gegend sein wird. Wie oft genossen wir beim Wäscheaufhängen auf dem rückseitigen Flachdach des Hauses diese Aussicht, Weite und städtische Ruhe …

Autor: Harry Körber, Anmerkung der OSTPOST Redaktion: Harry Körber ist Geschäftsführer des Altstadt-Drucks, welcher seit 10 Jahren die OSTPOST druckt. Der Artikel wurde abgedruckt in der OSTPOST Ausgabe 20. Fotos: Hinrich Bentzien und Harry Körber

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Blick über die Östliche Altstadt
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