Zeitzeugen: Interview mit Eleonore Lemmerich
Sie ist die Witwe des letzten Rostocker Gerbermeisters Hans Lemmerich. Seit 1767 gerbten die Lemmerichs in sieben Generationen Felle zu Leder und schrieben Geschichte in Rostocks Handwerker-Zunft.
Die OSTPOST sprach mit der heute (Stand 2001) 77-jährigen Eleonore Lemmerich.
OSTPOST: Wie lange leben Sie schon in Rostock?
Eleonore Lemmerich: Seit 1947, ich komme ursprünglich aus Sachsen, doch mich hat es immer an die See gezogen, schon als Kind. Irgendwann habe ich gesagt, ich gehe weg. In Nienhagen hatte ich einen Gönner, der mir den Zuzug ermöglichte. Zunächst hatte ich am Hopfenmarkt eine Handweberei, zwei Webstühle und stellte Stoffe und Kissen her. Dann lernte ich 1952 meinen Mann kennen, wir heirateten 1953. Da er selbstständiger Handwerksmeister war, hätte er nie eine Wohnung bekommen und da haben wir am Fischerbruch ein Grundstück gefunden, das ausgebombt war, auf dem er ein Haus bauen konnte. So wurde die Östliche Altstadt meine Heimat.
OSTPOST: Die Gegend um den Gerberbruch/ Fischerbruch war nicht gerade gemütlich?
Eleonore Lemmerich: Als es hieß, in die Altstadt zu ziehen, habe ich bitterlich geweint, weil es dort kein WC gab sondern nur diese Eimer ...
OSTPOST: Am Hopfenmarkt hatten Sie mehr Komfort?
Eleonore Lemmerich: Etwas mehr Komfort. Es gab zwar ein WC, aber außerhalb der Wohnung oben auf der Etage. Mein Mann baute gleich eine Klärgrube und wir hatten ein Problem weniger.
OSTPOST: Ihr Mann übte ein traditionsreiches Handwerk aus?
Eleonore Lemmerich: Er war Gerbermeister in der 6. Generation, zunächst angestellt bei meinem Schwiegervater, in den 60er Jahren übernahm er dann den Betrieb. Es war einmal eine der 3 größten Gerbereien am Gerberbruch.
OSTPOST: Wie viele Leute arbeiteten dort?
Eleonore Lemmerich: Bei meinem Schwiegervater waren es noch 20 bis 30 Arbeiter, vor dem Krieg. Später waren es dann nur noch 4 bis 5 Mann. Nach dem Krieg, mein Mann kam 1949 aus jugoslawischer Gefangenschaft nach Hause, bekamen die privaten Betriebe kein Rindsleder mehr. Sie mussten mit Schweinehäuten arbeiten. Damit hatte er keine Erfahrung und fuhr nach Brandenburg, um es dort zu lernen. Und dann hat er eine moderne Gerberei aufgezogen, die Grubengerberei war passé, denn Lohe (Baumrinde) gab es kaum noch. Es wurde dann mit Chemie gearbeitet.
OSTPOST: Wie war die Auftragslage?
Eleonore Lemmerich: Irgendwann kam eine Anfrage vom Fischkombinat, ob wir nicht Schleppnetz-Leder herstellen könnten ...
Und das produzierte die Gerberei dann ungefähr 20 Jahre. Später stellte mein Mann wieder Brandsohlen her bis die DDR auf die Idee kam, anstatt von Leder Pappe verarbeiten zu lassen ...
OSTPOST: Was machten Sie zu jener Zeit?
Eleonore Lemmerich: Ich erledigte eigentlich nur Botengänge zur Bank, ansonsten kümmerte ich mich um meine drei Kinder.
OSTPOST: Womit wurden Ihre Produkte damals transportiert?
Eleonore Lemmerich: Es wurde anfangs noch viel mit Pferdegespannen bewegt. Da passierte einmal folgendes: das abgetrennte Leinleder, das mit einem Scherdegen abgeschnitten wurde, war eigentlich Abfall und das hatte mein Mann einem Privatmann überlassen der einen Pferdewagen hatte und es auf die Mülldeponie bringen sollte. Er hatte es nur leider oft in die Warnow gekippt, die Leute beschwerten sich, bis die Polizei sich einschaltete. Aber es passierte gar nichts, er hatte 10 Kinder, man konnte diesen Herren nicht festsetzen. Darauf hatte mein Mann die Nase voll und kaufte einen alten Barkas.
OSTPOST: Sie waren eine 5köpfige Familie. Konnten Sie von Ihren Einnahmen gut leben?
Eleonore Lemmerich: Zum Teil, nur weil Hans so viel geschuftet hatte, hin und wieder sogar nachts. Mit dem Personal war das ja so eine Sache. Wir bekamen keine tüchtigen Leute, fast nur Alkoholiker. Oft Arbeiter die aus den volkseigenen Betrieben rausgeflogen waren. Hinzukam, dass wir nur einen ganz niedrigen Lohn zahlen durften. Einen Stundenlohn von 1,29 M, das haben viele Leute zu DDR-Zeiten gar nicht gewusst. Trotz dem konnte mein Mann mit diesen Leuten sehr gut umgehen. Das lief soweit ganz gut, nur nicht wenn er unterwegs war. Dann hakte das aus.
OSTPOST: Was passierte in so einem Fall?
Eleonore Lemmerich: Einmal gab es eine böse Geschichte, da waren die alle so betrunken, meine Tochter ist hin gegangen und hat die maßgenommen. Das hat den Herren natürlich nicht gepasst, weil sie ein junges Mädchen war. Die sagten dann, wir gehen nach Hause und arbeiten nicht mehr. Die Buchhalterin nahm meine Tochter bei Seite: Annegret, entschuldige Dich bitte, die gehen sonst nach Hause, die waren schon beim Umziehen. Da hat sie sich entschuldigt und es wurde weiter gearbeitet. Es hatte da schon so einige Szenen gegeben. Mein Mann konnte damit besser umgehen, ich hätte mich auch vergessen ...
Es wurden bei uns u.a. auch Wildschwein und Hirschfelle gegerbt. Eines Tages kam Walter Ulbricht nach Rostock und wollte Bärenschinken essen. Man schlachtete zwei Bären im Zoo, der Rest des Fleisches wurde im „National“ (ehem. Gaststätte in der Langen Str.) öffentlich verkauft. Wir sind auch da gewesen. Es hatte nicht geschmeckt, weil die Tiere nicht wild gelebt hatten und sich dem entsprechend ernähren konnten.
OSTPOST: Und wer hat das Fell bekommen?
Eleonore Lemmerich: Mein Mann gerbte die Felle umsonst, dafür bekam er ein Fell.
OSTPOST: Wer bekam das andere?
Eleonore Lemmerich: Der Zoo.
OSTPOST: Wie lange existierte die Gerberei?
Eleonore Lemmerich: Bis 1986. Danach ereignete sich eigentlich nichts nennenswertes. Allerdings waren vor einem viertel Jahr (2001!) noch Leute da, die Felle gegerbt haben wollten weil die Telefonnummer der Gerberei noch im Telefonbuch steht.
OSTPOST: Ihnen gehörte ja noch die Immobilie.
Eleonore Lemmerich: Ich habe mehrere Male versucht, die Gerberei zu verkaufen, man hat mich aufs Kreuz legen wollen beim ersten Verkauf. Die haben versucht, mir Altlasten nachzuweisen, u.a. Gerbstoffe, die dort nie verarbeitet wurden. Da habe ich gemerkt, dass die mich rüberholen wollten. Dann habe ich einen Makler gehabt, der es versuchte zu verkaufen. Ich muss dazu sagen, es ist Hochwassergebiet und schwer, dort Grundstücke zu verkaufen. Schließlich fand sich ein privater Käufer.
OSTPOST: Die Gerberei ist als Kultur-Stätte wieder belebt worden. Was halten Sie davon?
Eleonore Lemmerich: Ich bin eigentlich recht glücklich, dass die Seitengebäude wieder ausgebaut wurden. Die waren ohnehin nicht so schön.
OSTPOST: Haben Sie eine Vorstellung was in der Gerberei heute (Stand 2001) vor sich geht?
Eleonore Lemmerich: Ja natürlich, wenn meine Kinder verreist sind hüte ich das Haus im Fischerbruch und da bekommt man schon einiges mit. Da fängt das abends um 10 Uhr an und endet morgens um 10 Uhr, da hab ich schon mal die Polizei gerufen.
OSTPOST: Aus welchem Grund?
Eleonore Lemmerich: Na diese Techno-Musik, es war unerträglich. Ich habe versucht, mit Ohropax und geschlossenem Fenster zu schlafen – es war nicht möglich.
OSTPOST: Sind Sie mit der Entwicklung in der Östlichen Altstadt zufrieden?
Eleonore Lemmerich: Größtenteils ja. Positiv ist, dass die grauen Häuser hier wieder etwas Farbe bekommen haben. Die Fenster sind dafür kleiner geworden, um zwei Ziegelsteine. Früher konnte ich, wenn ich hier saß, (Altschmiedestraße) die Leute auf der Straße gehen sehen und die Autos wie sie parkten. Ich bin kein Mensch der den Fußgängern hinterher guckt, trotzdem fand ich das nicht schön, dass die Fenster verkleinert wurden. Und dann die Fassade der VHS zur Wendenstraße, die passt nicht ins Straßenbild. Sehr schön finde ich das Maria-Martha-Heim. Haben sich bereits Leute aufgeregt, dass die Fenster dort viel zu groß sind. Ich finde schon, dass für alte Leute größere Fenster eingebaut werden sollten, denn es sind ja meistens Menschen, die im Bett liegen und nicht oft raus können. Da haben sie dann wenigstens viel Licht.
OSTPOST: Womit halten Sie sich noch fit, womit beschäftigen Sie sich noch in Ihrem Alter?
Eleonore Lemmerich: Ich bin in der Sommerzeit fast täglich in der Petrikirche und mache dort Führungen. Ansonsten fotografiere ich sehr gerne und beschäftige mich mit dem Archivieren von Fotos.
OSTPOST: Was war für Sie bisher das schönste Ereignis seitdem Sie hier wohnen?
Eleonore Lemmerich: Das war der Aufbau des Petri-Turms.
OSTPOST: Wie haben Sie das erlebt?
Eleonore Lemmerich: Von Anfang bis Ende, ich bin oft da gewesen, habe viel fotografiert. Als wir das Turmfest feierten, bin ich sehr aktiv gewesen und hatte 200 Petrikirchen angeschrieben, die uns einen Gruß schicken sollten. Etwa 100 hatten geantwortet.
OSTPOST: Sie sind ja nun Insiderin und fühlen sich als echte Rostockerin. Was könnten Sie in der Östlichen Altstadt besonders empfehlen?
Eleonore Lemmerich: Natürlich die Petrikirche, das Katharinenstift und die kleinen Seitenstraßen einmal abzugehen.
Das Interview führte Peter Naujoks, es wurde abgedruckt in der OSTPOST Nr. 3
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